Kommentar von Lydia Rilling

Das Projekt „masterpiece management“ wirft für mich ganz grundsätzliche Fragen auf, die durch den Fragebogen noch stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Die Idee, ein Stück von unterschiedlichen Leuten begutachten zu lassen und die Anregungen und Kritikpunkte in zwei weitere Versionen einfließen zu lassen, ist zunächst sehr interessant und reizvoll – eine Art von Kollektivkomposition, bei der aber andere Prozesse ablaufen als bei Stücken, die gemeinsam von Komponisten geschrieben werden, wie z.B. in jüngerer Zeit 2008 im „Dialogue Experiment“ von Chaya Czernowins damaliger Kompositionsklasse an UC San Diego. Doch so interessant diese Idee ist, so problematisch finde ich die Gleichsetzung von Qualität und Erfolg, die dem Projekt außerdem zu Grunde liegt. Qualität und Erfolg sind schließlich keine absoluten Größen und daher auch nicht korrelierbar. Ob ein Stück zu Zeitpunkt x an Ort y erfolgreich ist, hängt von vielen Faktoren ab – künstlerischen und kulturellen, aber auch politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen – und nicht zuletzt spielt auch der Zufall eine Rolle. Und um welche Form von Erfolg soll es hier eigentlich gehen? Um den dauerhaft künstlerischen Erfolg eines Kunstwerks im emphatischen Sinne oder den konkreten Publikumszuspruch am Abend der Uraufführung? In beiden Fällen sind viele Faktoren wirksam, die das Design dieses „Experiments“ zwangsläufig nicht erfassen kann. Die Gleichsetzung von Qualität und Erfolg ignoriert, dass auch immer der Kontext mitbestimmt, was als Qualität angesehen wird und was erfolgreich ist. Das lässt sich schon allein daran erkennen, dass „das“ Repertoire keine fest fixierte, abgeschlossene Einheit ist, sondern etwas, das sich ständig entwickelt und zudem historisch und geographisch stark variiert. Oder anders gesagt: Eine Komposition, die in Donaueschingen gefeiert wird, kann in der Woche darauf in einem anderen Kontext wohlwollende Indifferenz oder entschiedene Ablehnung ernten.

 

Kurz zusammengefasst vermischt das Projekt meiner Ansicht nach zwei grundlegend unterschiedliche Fragen und ignoriert zugleich die zentrale Rolle des Kontextes für Kunst und ihre Bewertung. Genau dies spiegelt auch der Fragebogen wider. Er vermittelt durch die Fragen die illusionäre Vorstellung, Qualität sei eine absolute Größe, die im luftleeren Raum bestehen würde. Dabei würde er gleichzeitig bestens dazu taugen, in einem Seminar zu zeigen, was ein Kunstwerk ausmacht bzw. wie es gerade nicht funktioniert.

 

Die Anweisung „Bitte schätzen Sie bei jedem der genannten Kriterien ein, inwieweit sie es bereits für erfüllt halten (Bewertungsskala 1-10), warum und - wie man seine Erfüllung noch optimieren könnte“ suggeriert zum einen, dass tatsächlich alle Kriterien erfüllt sein sollen (auch wenn es dann die Option „Kriterium irrelevant“ bei den einzelnen Fragen gibt). Natürlich habe ich, wenn ich eine Komposition betrachte, Kriterien im Kopf, aber das entscheidende ist, dass jedes Kunstwerk letztlich seine eigene Kombination von Kriterien impliziert: ein Stück, dass sich sehr intensiv z.B. mit der Klanggestaltung beschäftigt, mag die Beschäftigung mit der Form außen vor lassen und umgekehrt. Kaum ein Stück wird alle Kriterien gleichermaßen erfüllen und dies ist auch nicht notwendig. Zugleich führt der Fragebogen vor, wie Kunst gerade nicht funktioniert – als Summe von brav erfüllten Kriterien. Es erscheint mir ziemlich naiv zu glauben, man könnte ein Kunstwerk tatsächlich durch einen bürokratischen Fragebogen erfassen, schließlich ist ein musikalisches Kunstwerk mehr als eine Abhakliste. Beim Lesen der Fragen denke ich unwillkürlich: ja theoretisch mag das ja eine gute Frage sein, aber es wirkt letztlich doch wie Trockenschwimmen, wenn der Kontext fehlt. Und dies umso mehr als er etliche Fragen enthält, die sich vielleicht ein Komponist stellen mag, die für die künstlerische Beurteilung hingegen vollkommen irrelevant sind, z.B. ob das Stück flexibel und transportierbar oder für den speziellen Uraufführungsanlass komponiert sein soll. Ein „Masterpiece“ entsteht eben gerade nicht durch Management. Selbst die unendlich zahlreichen Versuche, das Rezept zu finden, wie sich der sichere Top-Hit schreiben lässt, scheitern mit schöner Regelmäßigkeit.

 

Nun zur Komposition selbst – unter Einbeziehung einiger der Kriterien des Fragebogens, aber sicherlich nicht aller – aus meiner Perspektive einer Musikwissenschaftlerin, deren musikalische Erfahrungen stark von den neuen Musik-Szenen in Deutschland wie auch der Berliner Echtzeitmusikszene geprägt sind: Das Stück ist insgesamt handwerklich gut gemacht. Es zeigt, dass der Komponist sein Handwerk gelernt hat und dabei von unterschiedlichen Ästhetiken und Stilen Anregungen erhalten und diese in sein eigenes Schreiben integriert hat. Angesichts der Kürze von weniger als vier Minuten bietet das Stück viel und entwickelt dazu wirkungsvoll einen großen Kontrastreichtum. Es entfaltet dabei etliche interessante, individuelle Klänge. Aber letztlich versucht es – vielleicht wegen der zeitlichen Kürze-, zu viel zu bieten und zwängt dabei zu viel Material in die wenigen Minuten. Ob es auch deshalb wiederholt in neue Musik-Klischees verfällt? Der Klavierpart klingt z.B. ab Takt 41 viel zu stereotypisch virtuos. Eine Verbesserung wäre m.E., diese klischeehafte Virtuosität herauszunehmen, indem das Material des Klavierparts auf andere, weniger naheliegende Instrumente verteilt wird. Positiv aufgefallen ist mir, wie unterhalb der großen Kontraste zwischen den sparsam und den sehr dicht besetzten Abschnitte die ruhigeren bzw. dichteren Abschnitte miteinander verbunden sind (strukturelle Komplexität ist hier offensichtlich mein implizites Kriterium). Die starke Kontrastierung lässt die hyperaktiven Abschnitte allerdings zuweilen unmotiviert erscheinen – ein häufiges Problem in zeitgenössischen Kompositionen. Ärgerlich finde ich das Ende, das mit dem Crescendo und „big bang“ allzu abgedroschen klingt (noch ein Klischee). Es ist deutlich, dass die Aufmerksamkeit in erster Linie der Klanglichkeit und weniger der formalen Gestaltung galt. Klanglich ist das Stück nämlich weitaus differenzierter und interessanter ausgearbeitet. Ein bemerkenswertes Moment ergibt sich dabei aus dem Vergleich der Aufnahme und der Partitur: in der Aufnahme sind einige Passagen weitaus weniger „ordentlich“ gespielt als von der Partitur vorgeschrieben und das lässt das Stück damit interessanter, weil unregelmäßiger werden als es notiert ist. Ich würde empfehlen, dies in der nächsten Version zu integrieren und entsprechend zu notieren – z.B. entwickelt die Trompete in Takt 8-19 viel stärkere rhythmische Unregelmäßigkeiten und Fluktuationen in den split tones als notiert. Das Stück gehört klar in den stilistischen Kontext dessen, was man derzeit in vielen Konzerten bei deutschen Festivals für Neue Musik hören kann. Daher kann es sicherlich nicht den Status des Besonderen in Anspruch nehmen. Wenn man es in 20 Jahren hören würde, könnte man es zeitlich bestimmt leicht datieren.